Samstag, 23. November 2013

Was ist das EGO?- Interview mit Archimandrite Dionysios (Teil 3-letzter Teil)

WIE: In der Tradition der orthodoxen Kirche gab es eine seit langer Zeit bestehende Linie erleuchteter spiritueller Väter, großer Einzelpersonen, die in ihrem Leben gezeigt haben, dass es möglich ist, das Ego zu vernichten und ein neues Leben in Gott zu entdecken. Woran kann man einen Menschen erkennen, der den spirituellen Kampf gewonnen hat? Wie ändert sich der Ausdruck der Persönlichkeit bei jemandem, der wirklich über die Grenzen des Egos hinausgegangen ist?
DIONYSIOS: Er ist immer zu allem bereit. Er ist nie müde oder sagt, er sei erschöpft, oder verspürt das Gefühl von Trägheit. Er ist voller Freude. Er ist immer bereit zu geben. Er ist nur für andere da. Er ist bereit, jedem zu dienen. Er verurteilt keinen, den schlimmsten Sünder eingeschlossen. Er ist wie ein Kind, aber wie das Kind eines Königs. Wer kann dem Sohn eines Königs etwas antun? Wer kann ein neu geborenes Löwenbaby berühren, wenn er weiß, dass seine Mutter, die Löwin, in der Nähe ist? Sind wir so, dann gleichen wir einem kleinen Lamm unter Wölfen, sind aber furchtlos. Wir sind da, bieten uns allen an, empfangen jeden, lieben, dienen, beten für alle, sind bereit, in jedem Augenblick zu sterben, und sind darin vollkommen und hundertprozentig frei. Alles dies sind Früchte der Liebe, weil wir selbst zum Quell der Liebe werden. So ist ein Mensch ohne Ego. Das ist Transformation. Wir gleichen dann einem wild wachsenden, alten Baum und brauchen jemanden, der in uns eintritt und diesen Baum in einen guten, Früchte tragenden Baum verwandelt. Ein Mensch ohne Ego ist ein Mensch mit Gott, ein Mensch mit dem Heiligen Geist. Wenn wir bereit sind, für jeden in jedem Augenblick zu sterben, wenn wir den anderen lieben, ihn respektieren, uns vor ihm niederwerfen, dann ist das so, als ob wir ihn auf eine Operation vorbereiten, aber dabei nicht über ihn urteilen oder das Gefühl haben, dass er etwas von uns braucht. Wenn wir vor Ihm vollkommen sind–und wir können vollkommen sein, tatsächlich müssen wir vollkommen sein, das ist das Urbedürfnis–, dann, in demselben Moment, brauchen die Menschen das, sie erkennen es, verstehen es. Sehr schnell werden die Leute vor einer solchen Person Platz nehmen, vor einem spirituellen Sohn oder einem spirituellen Vater.
WIE: Machen Sie auch die Erfahrung, dass ein spiritueller Vater, der wirklich die Begrenzungen seines Ego überwunden hat, nicht nur die Menschen dazu inspiriert, ihr höchstes Potenzial zu erreichen, sondern gleichzeitig für das Ego derjenigen, die gekommen sind, um ihn zu sehen, auch die größte Herausforderung darstellt?
DIONYSIOS: Durchaus. Tatsächlich kommt in Gegenwart einer solchen Person der Teufel sofort zum Vorschein. Und wir können deutlich sehen, wie der Teufel die Menschen verrückt, wütend oder respektlos werden lässt, auch wenn man kein einziges Wort gesagt hat. Einfach weil solch ein Mensch da ist, kann es bei den Anwesenden förmlich zur Explosion kommen. Und wir können in ihnen schreckliche Dinge erkennen, dort wo wir sonst nur freundliche Leute mit Krawatten und goldenem Schmuck sehen. Wenn jemand auftaucht, der den Geist Gottes verkörpert, dann können wir das Gleiche sehen, was wir auch sehen konnten, als Jesus durch die Straßen ging. Die Teufel in den Anwesenden sagten: "Heh da! Wer bist du denn? Du bist doch nur gekommen, um uns in Schwierigkeiten zu bringen!“ Einige waren über ihn entrüstet, andere dachten darüber nach, wie sie ihn töten könnten, wieder andere richteten ihre Gedanken gegen ihn. Wenn Jesus sprach, waren seine Worte nicht an das gerichtet, was diese Menschen sagten, sondern an das, was sie dachten. Und der gleiche Heilige Geist ist auch in den spirituellen Vätern und kann genau diese Art der Konfrontation hervorrufen. Das passiert, weil die andere Person begreift, dass sie mit diesem
Menschen nicht herumspielen oder sich vor ihm verstecken kann.
WIE: In den christlichen Schriften wird auf den Feind des spirituellen Weges häufig mit drastischen Begriffen wie ‚Satan', ‚Luzifer' oder ‚Teufel' verwiesen. Ist Satan einfach eine Metapher für das Ego des Menschen? Oder ist er etwas, das unabhängig von uns besteht?
DIONYSIOS: Satan ist in diesem Fall der Lehrer, und das Ego ist das Mittel, mit dem er seine Belehrungen durchführt. Wenn wir aus unserem Ego heraus leben, verbrennen wir Weihrauch für ihn. Wenn er diesen Duft wahrnimmt, kommt er herbei. Das ist ihm vertraut, es ist mit ihm verwandt, es ist seine Sprache, sein Dialekt. Das gefällt ihm. Daher kommt er und beginnt, mit unserem Ego in Kontakt zu treten. Dann fängt er an, mit uns Verbindung aufzunehmen.
WIE: Würden Sie also sagen, dass Satan im Sinne einer unpersönlichen Kraft des Bösen existiert, die in jedem von uns als Ego wirksam ist? Oder wäre es zutreffender zu sagen, das Ego ist bereits in uns vorhanden, und Satan ist die Stimme der Versuchung, auf die das Ego hört?
DIONYSIOS: Letzteres. Er hat nicht die Macht, durch unser Ego zu wirken. Wir sind jederzeit frei, unsere Entscheidung zu treffen.
WIE: Im Westen gibt es heutzutage viele spirituelle Autoritäten, die versuchen, die Ideen der westlichen Psychologie auf den spirituellen Weg anzuwenden. Tatsächlich wird jetzt häufig die Ansicht vertreten, dass wir zunächst ein starkes Ego, ein starkes Gefühl von uns selbst entwickeln müssen, um es mit den Schwierigkeiten auf dem spirituellen Weg aufnehmen zu können. In vielen spirituellen Kreisen ist die Behauptung "Wir müssen erst jemand sein, bevor wir niemand werden können“ fast so etwas wie ein Glaubenssatz. Was halten Sie von diesem Gedanken?
DIONYSIOS: Das wäre so, als ob wir sagen würden: "Wir müssen zuerst zum Chef der Mafia werden, bevor wir Präsident werden können.“ Oder: "Ich werde zuerst mit dem Teufel zusammenarbeiten und mit ihm engen Umgang pflegen, sodass er mir alles gibt, was ich brauche. Weil ich aber schlauer bin als er, werde ich meine Macht dann für das Gute einsetzen.“ Es ist eine gute Sache, Kinder hinauszuschicken, damit sie studieren können, Singen lernen, sportlichen Betätigungen nachgehen, eine gute Ausbildung erhalten, eine ökonomische Basis haben, von der aus sie ihr Leben in Angriff nehmen können. Aber erleben wir nicht oft, wie die Träume reicher Menschen und ihrer Kinder zerplatzen? Die Bibel sagt: "Wenn die Bauhandwerker hart arbeiten, um einen Turm zu bauen, dem der Herr nicht seinen Segen gibt, dann war alle Mühe vergebens.“
Dieses Ego ist der moderne Gott des 20. und 21. Jahrhunderts, und der Gedanke, auf den Sie in Ihrer Frage verweisen, ist die moderne Religion. Uns ist diese Versuchung jedoch bekannt. Das Ego bedeutet: "Ich glaube nicht an die Existenz des Heiligen Geistes; es gibt keinen Heiligen Geist.“ Das ist aber eine Lüge. Der Heilige Geist leitet die Welt, und gesegnet sind diejenigen, die ihn wollen, die ihn erkennen, die darin atmen, sich darin bewegen, dadurch inspiriert werden, ihn lieben und sich damit vereinen.
WIE: Es gibt auch heute viele spirituelle Größen, die behaupten, dass das Ego ein ganz natürlicher und unabänderlicher Bestandteil von uns Menschen ist und jeder Versuch, es aufzugeben und unsere niedere Natur bei der Suche nach Vollkommenheit zu transzendieren, schon an sich Ausdruck größter Hybris ist. Die Jungianerin Marion Woodman geht sogar so weit zu sagen, dass bereits die Idee der Vollkommenheit "die Seele vergewaltigt“. Wie würden Sie auf Menschen reagieren, die behaupten, wir seien von Natur aus mit Schwächen behaftet und unfähig, Vollkommenheit zu erlangen?
DIONYSIOS: Christus sagte: "Seid vollkommen. Werdet vollkommen. Und wenn ihr vollkommen seid und alles in vollendeter Weise tut und dabei innerlich sagt und glaubt, dass ihr elende, verlorene Sünder und Diener seid, werdet ihr Demut und Ehre finden.“ Es ist möglich, vollkommen zu sein, weil Er vollkommen ist und Er unsere Natur angenommen hat. Wenn Er das getan hat, dann können auch wir das tun; wir können mit Ihm sein. Durch dieses Geschenk ist es möglich, vollkommen zu sein. Und es ist auch möglich, unvollkommen zu sein, weil wir die Macht haben, das Geschenk abzulehnen und die Liebe zurückzuweisen. Und erst, wenn wir sie ablehnen, dann brauchen wir Theologie, dann brauchen wir Philosophie und dann müssen wir neue Bücher schreiben und neue Theorien aufstellen, die besagen, dass sich das Ego nicht transzendieren lässt. Es ist möglich, frei vom Ego zu sein. Das muss auch so sein. Es ist notwendig. Nur weil die Menschen von dieser Möglichkeit nichts wissen oder sie nicht wollen und nicht zulassen, dass diese Möglichkeit besteht, müssen sie diese ganzen Ideen hervorbringen. Sie wissen jedoch, dass sie Lügen erzählen. Etwas Verrückteres kann uns wirklich kaum zu Ohren kommen. Welcher Arzt sagt einem Kranken: "Schauen Sie, die Krankheit ist Bestandteil Ihres Wesens. Wir müssen mit ihr leben. Daher brauchen wir uns auch nicht die Nägel zu schneiden oder unser Gesicht zu waschen, denn morgen sind wir ja ohnehin tot.“ Was für eine Lehre wäre das? Ja, es ist möglich, frei vom Ego zu sein, aber es ist ein Mysterium.
WIE: Bei den asketischen Praktiken in der orthodoxen Kirche wird mit Nachdruck betont, dass es erforderlich ist, unsere Triebe und Instinkte zu unterdrücken. Impulse wie Lust, Hunger, Durst und sogar das Schlafbedürfnis werden oft für lange Zeitspannen mit extremen Akten der Entsagung unter strenger Kontrolle gehalten. Welche Rolle spielen asketische Praktiken bei der Erlangung der Freiheit vom Ego?
DIONYSIOS: Die Askese ist ein Mittel, dorthin zu gelangen, wohin wir gehen wollen. Sie ist wie ein Gleis, auf dem der Zug entlangfahren kann. Viele Menschen meinen, Askese bedeutet, strengen Regeln zu folgen, aber Askese ist kein Gesetz, das uns auferlegt wird. Beim Fußball beispielsweise geht es nicht um strenge Spielregeln, sondern diese Regeln helfen, ein perfektes Spiel entstehen zu lassen. Genauso ist es auch beim asketischen Leben. Die besonderen Zeiten und die speziellen Regeln für das Fasten, Wachen und Beten dienen als mystische Wege oder Instrumente. Wir folgen diesen geheimen Wegen, erfüllen diese göttlichen Verpflichtungen, befolgen diese göttlichen Befehle. Außerhalb der allgemeinen Regeln gibt es auch noch persönliche Regeln, die in der Kommunikation zwischen spirituellem Vater und Sohn aufgestellt werden und für jeden Einzelnen ganz spezielle Berufungen bedeuten. Wir sehen, dass Heilige viel Zeit in Höhlen oder im Wald oder in der Wüste verbringen. Diese Menschen gehen nicht mit dem Plan dorthin, wieder zurückzukehren. Sobald sie sich dorthin begeben, sind sie für immer gegangen. Und dort übernimmt dann Gott ihre Führung.
Als Christus nach seiner Taufe in die Wüste ging, stand er dem Teufel gegenüber. Dabei dachte er nicht: "Nach vierzig Tagen werde ich zurückkehren.“ Er ging einfach dorthin. Er kam aus dem Jordan, war von Johannes dem Täufer getauft worden und ging in die Wüste. Aus einer bestimmten Perspektive gesehen, verlor er Zeit, als er dort allein für sich war. Er ging nicht zu seinen Menschen, um ihnen Nahrung zu geben, um sie zu segnen, sie zu führen oder ihnen den Heiligen Geist zu geben. Nein. Er ging in die Wüste. Und er sagte zum Teufel: "Mein Freund, schau, bis jetzt hast du mit den Menschen gespielt. Bei Eva im Paradies hast du begonnen, und jetzt wirst du bei mir damit aufhören. Ich bin allein hier. Ich esse nicht und trinke nicht, und die nächtliche Kälte in der Wüste, die mir in die Knochen kriecht, ist schrecklich. Ich leide, aber das ist kein Spiel. Ich bin hier. Allein. Und du kommst zu mir und sagst mir, ich solle Steine in Brot verwandeln. Du sagst mir, ich solle mich vor dir niederwerfen. Vor dir? Um dir die Macht über mein Volk zu geben? Geh jetzt. Wir haben einander erkannt. Ich weiß, wer du bist, und du weißt, wer ich bin.“ Und in diesem Moment gab der Teufel auf.
Das asketische Leben ist also notwendig. In jedem Augenblick zum Sterben bereit zu sein, und zwar
vor jedem für alles zu sterben–das ist die Wüste, das ist das asketische Leben. Und das bringt den Heiligen Geist herbei. Und wenn wir gehen, wird Gott uns führen.

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